Studien

Entwicklung und Anpassungsfähigkeit des menschlichen Auges

Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass das Auge des Neugeborenen eine große Baustelle ist im Vergleich zum Auge eines Erwachsenen. Unter anderem ist die Sehschärfe stark reduziert, da sich der gelbe Fleck noch nicht ausgebildet hat. Darüberhinaus zeigen Neugeborene sehr viel größere Brechungsfehler als Erwachsene, weichen also stärker von der Normalsichtigkeit ab. Sie sind dabei in der Regel weitsichtig, wobei der Durchschnitt zwischen +2 und +3 Dioptrien zu liegen scheint (und auch Kurzsichtigkeit vorkommt). Mehr als die Hälfte der Neugeborenen hat einen Astigmatismus von mehr als +0,75 Dioptrien (verglichen mit weniger als 10% der erwachsenen Bevölkerung).

Die Brechungsfehler gleichen sich in den ersten Lebensjahren in den meisten Fällen größtenteils aus, wobei ein erheblicher Anteil auf die ersten zwölf Monate fällt. Interessanterweise bewegen sich in dieser Entwicklungsphase nicht nur weitsichtige, sondern auch kurzsichtige Säuglinge in Richtung der Normalsichtigkeit. Dieser Prozess wird in der Fachsprache als Emmetropisierung (emmetrop = normalsichtig) bezeichnet.

Lange Zeit wurde angenommen, dass der Prozess der Emmetropisierung genetisch determiniert ist – und diese Auffassung wird auch heute teilweise noch von Ärzten und Optikern vertreten. In den 90er-Jahren häuften sich jedoch in der Forschung Hinweise darauf, dass der Prozess zumindest teilweise durch Seheindrücke beeinflusst wird. Daran, dass das wachsende menschliche Auge die relative Größe seiner einzelnen Bestandteile ständig flexibel anpasst und auf diese Weise in den meisten Fällen Normalsichtigkeit zunächst herstellt und dann später erhält, besteht aus wissenschaftlicher Sicht heute auch kein Zweifel mehr.

Achtung! – Brillen sind kein Spielzeug! Wenn der Augenarzt bei einem Kind aufgrund starker Weitsichtigkeit eine Brille als notwendig erachtet, sollte dieser Rat unbedingt befolgt werden. Anderenfalls besteht das Risiko, dass das Kind anderenfalls übermäßiges Schielen entwickelt, die Fähigkeit räumlich zu sehen verliert oder gar erblindet. Umgekehrt führt Weitsichtigkeit anders als Kurzsichtigkeit nicht zu einem erhöhten Risiko von Netzhautablösung.

Aber auch nach dem Erwachsenwerden ist das Auge kein statisches System, im Alter verändern sich Dicke und Brechungseigenschaften von Augenlinse und -hornhaut. Deshalb erhält das erwachsene Auge seine Fähigkeit, Brechungsfehler durch Anpassung der Augapfellänge auszugleichen, auch ins Erwachsenenalter bei (Grosvenor, 1987).

Artikel (kein freier Zugriff): Kathryn J. Saunders: Early refractive development in humans, Survey of Ophthalmology, 40:3 (November 1995), 207–216.

Artikel (freier Zugriff): Grosvenor, Theodore: Reduction in Axial Length with Age: An Emmetropizing Mechanism for the Adult Eye?, American Journal of Optometry & Physiological Optics, 64:9 (September 1987), 657–663.

Epidemiologische Studien zu Kurzsichtigkeit

Schon länger wurde ein Zusammenhang zwischen Kurzsichtigkeit und Intelligenz und/oder Bildung vermutet. Unter der Annahme, dass sich das Auge unabhängig von Umwelteinflüssen entwickelt und Normal- oder Fehlsichtigkeiten rein genetisch determiniert sind, führte das zu Blüten wie der Theorie, dass Kurzsichtigkeit und Intelligenz durch die gleichen Gene programmiert würden.

Artikel (kein freier Zugriff): Sanford J. Cohn; Catherine M. G. Cohn; Arthur R. Jensen: Myopia and intelligence:a pleiotropic relationship?, Human Genetics, 80:1 (September 1988) 53–58.

Was an der Stelle nicht übersehen (wohl aber gelegentlich verschwiegen) wurde, ist die Tatsache, dass „Intelligenz“ (was auch immer das bedeuten mag) und insbesondere Bildung gleichfalls mit häufigem und langem Lesen verbunden sind. Die Theorie, dass nicht Intelligenz oder die Gene, sondern langes Lesen (insbesondere bei schlechtem Licht) schuld an Kurzsichtigkeit ist, war und ist in vielen Ländern mehr oder weniger eine Volksweisheit.

Tierversuche stellen die Welt vom Kopf wieder auf die Füße

Mitte der 90er-Jahre etablierte diese Volksweisheit sich dann wieder im wissenschaftlichen Diskurs. In Studien wurde untersucht, wie Tiere (unter anderem Küken, Spitzhörnchen und verschiedene Affenarten) reagieren, wenn ihnen optische Linsen angepasst werden, die Brechungsfehler simulieren.

Dabei wurde festgestellt, dass die Tiere (überwiegend durch Veränderung der Länge des Augapfels) genau die Brechungsfehler entwickeln, zu deren „Korrektur“ die entsprechenden Linsen bei Optikern verschrieben werden. Die durch die Linsen unscharf auf die Netzhaut projizierten Bilder mussten also das Auge auf irgendeine Weise dazu antreiben, so so zu verändern, dass wieder ein scharfes Bild hergestellt wird.

Da die Tieraugen ihre Länge in die richtige Richtung anpassten, wurde angenommen, dass sie in der Lage sind, das Vorzeichen der Unschärfe (also ob selbige durch Kurz- oder Weitsichtigkeit verursacht wurde) zu bestimmen. Dies konnte jedoch erst nach der Jahrtausendwende bestätigt werden.

Artikel (freier Zugriff): C. F. Wildsoet: Active emmetropization — evidence for its existence and ramifications for clinical practice, Ophthalmic and Physiological Optics, 17:4 (Juli 1997), 279–290.

Artikel (kein freier Zugriff): Tae Woo Park; Jonathan Winawer; Josh Wallman: Further evidence that chick eyes use the sign of blur in spectacle lens compensation, Vision Research, 43:14 (Juni 2003), 1519–1531.

Mechanismus der Emmetropisierung

Das Auge nutzt also die Unschärfe, die aus einem Brechungsfehler resultiert, um genau diesen über die Zeit durch entsprechende Gegenmaßnahmen (Wachstum) auszugleichen. – Das klingt zunächst plausibel, vielleicht sogar simpel. Das wäre es auch, wenn das Auge immer unendlich weit entfernte Gegenstände betrachten würde. Diese soll das Auge im entspannten Zustand nämlich scharf abbilden, dann wird es normalsichtig genannt. Damit es das kann, muss die Länge des Augapfels perfekt auf die Brechkraft der Hornhaut und der Augenlinse angepasst sein, sodass es die aus unendlicher Entfernung von einem Punkt kommenden Parallelstrahlen auch auf der Netzhaut in einem Punkt fokussiert. Ist das Auge zu lang, wird ein unendlich entfernter Gegenstand stattdessen vor der Netzhaut abgebildet. Auf der Netzhaut laufen die Strahlen dann bereits wieder auseinander und bilden einen Kreis, das Auge ist kurzsichtig und das Bild auf der Netzhaut unscharf (kurzsichtige Unschärfe, myopic blur). Ist das Auge zu kurz, wird umgekehrt der Gegenstand hinter der Netzhaut abgebildet und das Auge ist weitsichtig (weitsichtige Unschärfe, hyperopic blur).

Was ist jedoch mit endlich entfernten Gegenständen? Bei diesen laufen die Strahlen, die von einem Gegenstandspunkt kommen, nicht parallel, sondern sie laufen auseinander. Das Auge muss zusätzliche Brechkraft aufbringen, einen Anteil, der die auseinanderlaufenden (divergierenden) Lichstrahlen parallelisiert, und einen Anteil, der diese parallelen Strahlen auf einen Punkt auf der Netzhaut fokussiert. Die geschieht durch den Prozess der Akkommodation, in dem durch einen Muskel, den Ziliarmuskel, die Krümmung der Linse erhöht wird, sodass ihre Brechkraft steigt.

Wer an dieser Stelle in Physik aufgepasst hat, weiß, dass prinzipiell auch das weitsichtige Auge in der Lage sein müsste einen unendlich entfernten Gegenstand scharf abzubilden, nämlich indem es durch Akkommodation eine erhöhte Brechkraft aufbringt. Und genau das passiert auch, wenn das Auge nicht allzu weitsichtig ist und die notwendige Brechkraft ohne großen Aufwand aufbringen kann. Ein kurzsichtiges Auge kann das nicht, denn Akkommodation würde den ohnehin schon vor der Netzhaut abgebildeten Gegenstand nur noch weiter vor der Netzhaut abbilden – und negative Akkommodation gibt es nicht.

Das Auge sollte in der Lage sein, Kurzsichtigkeit zu erkennen, da sie kurzsichtige Unschärfe verursacht, der sich nicht durch Akkommodation beikommen lässt.

Säuglinge kommen jedoch in aller Regel weitsichtig zur Welt und entwickeln sich in ihren ersten Lebensjahren zuverlässig in Richtung Normalsichtigkeit. Wie machen sie das?

Es liegt nahe, dass das Auge die Information, ob es zur Abbildung unendlich entfernter Gegenstände akkommodieren muss, verwenden kann, um sein Wachstum zu regulieren. Das ist recht einfach, denn das weitsichtige Auge muss unabhängig vom Sehabstand immerzu ein gewisses Mindestmaß an Akkommodation aufbringen, nämlich die Menge, die zur scharfen Abbildung eines unendlich weit entfernten Gegenstandes erforderlich ist. Für näher liegende Gegenstände muss sogar noch mehr Akkommodation aufgebracht werden. Es wäre also ein guter Ansatz, dass das Auge so lange in die Tiefe wächst, wie es ständig akkommodieren muss und sein Wachstum einstellt, sobald es einen Zustand erreicht hat, indem es Phasen gibt, in denen es nicht akkommodieren muss.

Dieser Mechanismus würde bedeuten, dass das Augen ausreichend lange Phasen der Fernsicht benötigt, um zu erkennen, dass es normalsichtig ist. Fehlen diese, so müsste es auch im normalsichtigen Zustand ständig akkommodieren und könnte über das Ziel hinausschießen, also Kurzsichtigkeit entwickeln.

Einschub: Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen kurz- und weitsichtiger Unschärfe

Aus dem Artikel von Park (2003) geht hervor, dass das Auge Informationen über die Akkommodation zwar verwendet, jedoch nicht zwingend braucht. Durch einen noch nicht abschließend verstandenen Mechanismus ist es in der Lage, kurzsichtige von weitsichtiger Unschärfe zu unterscheiden.

Die Tatsache, dass weitsichtige Unschärfe ein Auslöser für eine Verlängerung des Augapfels ist, hat jedoch weitreichende Folgen: Da mangelhafte Akkommodation im Nahbereich mit weitsichtiger Unschärfe einhergeht, haben Personen mit Akkommodationsinsuffizienz eine erhöhte Neigung, Kurzsichtigkeit zu entwickeln, insbesondere dann, wenn sie viel Zeit mit Naharbeit verbringen.

Fernsicht-Phasen können lange Nahsicht-Phasen ausgleichen

In der Forschung ist mittlerweile bekannt, dass ausreichend lange Fernsicht-Phasen in Tieren tatsächlich die Entwicklung von Kurzsichtigkeit verlangsamen oder gar verhindern, wobei der Grad der Verlangsamung vor allem von Länge und Häufigkeit dieser Phasen abhängt. Was sich auf jeden Fall auf den Menschen übertragen lässt, ist, dass relativ kurze Fernsicht-Phasen zeitlich dominierende Nahsicht-Phasen ausgleichen können.

Rhesus-Affen: Chea-su Kee; Li-Fang Hung; Ying Qiao-Grider; Ramkumar Ramamirtham; Jonathan Winawer; Josh Wallman; Earl L. Smith, III: Temporal Constraints on Experimental Emmetropization in Infant Monkeys, Investigative Ophthalmology & Visual Science, 48:3 (März 2007), 957–962.

Küken: Jonathan Winawer, Josh Wallman: Temporal constraints on lens compensation in chicks, Vision Research, 42:24 (November 2002), 2651–2668.

Spitzhörnchen: A. W. Shaikh, J. T. Siegwart Jr, T. T. Norton: Effect of interrupted lens wear on compensation for a minus lens in tree shrews, Optometry and Vision Science 76:5 (Mai 1999), 308–315.

Kurzsichtigkeit ist reversibel

Was außerdem aus praktisch allen Studien mit Tierversuchen hervorgeht: Werden von einem Auge, das aufgrund künstlicher Linsen eine Fehlsichtigkeit entwickelt hatte, diese Linsen wieder entfernt, so wird es wieder normalsichtig. Und das unabhängig davon, ob es vorher kurzsichtig oder weitsichtig war.

Zur Werkzeugleiste springen